REQUIEM FÜR AUSCHWITZ
von Roger Moreno-Rathgeb

Presse Berlin

Nach dem Konzert in Berlin  am 29. Januar 2013


NZZ am Sonntag  7. April 2013

Roma- und Sinti-Philharmoniker aus Frankfurt

Musik als Reflex der Vergangenheit

Bühne und Konzert
Vor zehn Jahren ist in Frankfurt ein Orchester gegründet worden, in dem Roma und Sinti miteinander musizieren. Das Orchester hat nun ein Requiem des aus der Schweiz stammenden Komponisten Roger Moreno Rathgeb zum Gedenken an Auschwitz erarbeitet.

Marcel Malachowski

Es sind die Streicher, die das Donnern vorwegnehmen. Sie kündigen ihn an, den reinigenden Regen der Choräle, der wie eine zitternde Wand auf das Publikum zurasen wird. In heutigen Zeiten, in denen die Werbe-Effekte selbst die klassische Musik beherrschen, ist es nicht gerade erfolgslüstern, ein Requiem zu schreiben. Und dann noch eines für Auschwitz. Das in Berlin aufgeführt wird. Am Vorabend des achtzigsten Jahrestages der demokratischen Machtübergabe an Hitler. Nach neuesten Umfragen wissen die meisten Deutschen nicht, was am 30. Januar 1933 passiert ist. Und für viele Junge ist Auschwitz kein Begriff. Für den Komponisten dieses Requiems, Roger Moreno Rathgeb, ist es dagegen mehr als nur ein Begriff. Denn er kann nicht vergessen.

Wie ein Mosaik

Nach einem Besuch im Konzentrationslager war er so ergriffen, dass er, wie er berichtet, die Arbeit am Stück jahrelang unterbrechen musste. Rathgeb kommt aus der Schweiz, hier wuchs er auf in einer bürgerlichen Sinti-Familie, hier entwickelte er sich als Autodidakt zum Jazz- und Folk-Musiker, bis er die klassische Musik für sich entdeckte. Gerne lässt er volkstümliche Motive der Roma-Erzählungen als Zitate einfliessen. Im Auschwitz-Requiem sind dies unter anderem die «Schreie der Toten», wie er es nennt; als anklagende Heimsuchung kehren sie im Stück immer wieder. Ein Requiem ist nicht für jedermann, ein Auschwitz-Requiem ist es noch weniger. Es erinnert an die Vergangenheit – auch an die musikalische.

Rathgeb ist mit diesem Requiem ein Meta-Stück gelungen, im besten Sinne konservativ: beeindruckend, verstörend, fliessend, zerbrechlich, gewaltig und zart zugleich, voll der stilistischen Überraschungen. Die Einleitung der dramatisch aufbrausenden Orgel kündigt eine kühne Reise in die Dunkelheit an, die unerträglich zu werden droht. Dann aber greift das Orchester Raum, während die Solistinnen und Solisten mit ihren unterschiedlichen Stimmlagen kontrastierend für Helle sorgen. Das «Dies irae», die lateinische Totenliturgie vom «Tag des Zornes», erhält in den Aufführungen mit dem Dirigenten Riccardo M. Sahiti eine Anmutung, die an die Symphonie fantastique von Hector Berlioz erinnert. Nach und nach verschwindet die Düsternis, breitet sich wunderbare Melodik aus.

Mehr als «Zigeunermusik»

Der vokale Part wurde in jeder der Aufführungen in Amsterdam, Tilburg, Budapest, Prag, Frankfurt und Krakau von anderen Interpreten übernommen. Im tschechischen Rudolfinum stand mit Pavlina Matiova erstmals in der langen Geschichte des Hauses eine Romni als Solistin auf der Bühne. In Tschechien leben Hunderttausende Roma. Es verwundert, dass die Musik der Millionen Roma in Ost- und der Millionen Sinti und anderer verwandter Volksgruppen in Westeuropa immer nur mit dem Klischee der «Zigeunermusik» in Verbindung gebracht wird. Diese verkürzte Sichtweise gibt es ähnlich auch bei der jüdischen Musik, die nicht nur aus Klezmer und Kaddisch besteht, sondern etwa auch den Flamenco beeinflusste und heute von queerem Rap in New York bis zu russischem Punk in Berlin-Marzahn reicht.

Die Vielfalt der Roma- und Sinti-Musik, das lässt das Auschwitz-Requiem gut erkennen, nährte sich schon immer aus ihrer Adaption an die Umgebung in der Diaspora. Sie schmiegte sich in meisterlicher Verfeinerung an die Grossmeister arabischer Instrumentalität an – Balkan-Roma nennen sich bis heute «Ägypter» –, aber auch an mitteleuropäische Volksmusik des 19. Jahrhunderts. Die Rumba brachten südspanische Einwanderer mit, die diese Art der Melodiebildung globalisierten. Die Chalga-Pop-Kultur aus Bulgarien stützt sich auf diese lebhafte und zutiefst offene Tradition.

Das heutige bürgerlich-normale Leben der meisten Roma, Sinti und Manouches einem grösseren Publikum bekanntzumachen, ist das Verdienst des Dirigenten Riccardo M. Sahiti, der den Frankfurter Förderverein der Roma-und-Sinti-Philharmoniker gegründet hat. Trotz vielen Rückschlägen ist es Sahiti in zehn Jahren gelungen, ein aus achtzig Mitgliedern bestehendes Orchester zu bilden, in dem bestausgebildete Vertreter jeder Instrumentengattung aus ganz Europa zusammenkommen. Die Philharmoniker sind jüdische, muslimische, orthodoxe, katholische und agnostische Roma und Sinti, wie ein Mosaik der Vergangenheit und der Zukunft, das auch Rathgeb, wie er sagt, mit seinem Requiem schaffen wollte.

Erst 1982 wurde der nationalsozialistische Massenmord an über 500 000 «Zigeunern» von der deutschen Bundesregierung als Genozid anerkannt. Er ist tatsächlich der «vergessene Völkermord», als den ihn Historiker bezeichnen. Deutschland schickt heute Pogromflüchtlinge aus Kosovo, aus Rumänien und Ungarn wieder zurück in diese Länder, in denen es in den letzten Jahren Hunderte von Morden an Roma gab. Anders in Serbien, Spanien oder Bulgarien: Dort sind sie Teil jeder sozialen Schicht. Auch die Roma-und-Sinti-Philharmoniker haben mit ihren Aufführungen in ganz Europa bewiesen, dass sie ein Teil dieses kultivierten Kontinents sind.

Gegen die Ausgrenzung

George Soros, der amerikanische Philanthrop und jüdisch-ungarische Emigrant, eröffnete die Uraufführung von Rathgebs Requiem in Budapest mit einer Rede. Er wies darauf hin, dass nicht die Sinti und Roma sich selber ausgrenzten, dass vielmehr oftmals ihren Kindern der Schulbesuch vom Staat verweigert werde, wie schon in den 1920er Jahren in Deutschland. Soros möchte das Sahiti-Ensemble in die USA einladen, um auch dort jungen Leuten diese Form der Erinnerung nahezubringen. Die 21-jährige Tessa aus Bulgarien besuchte in Berlin zum ersten Mal ein Konzert mit klassischer Musik. Angetan vom Reichtum des Stücks stellte sie danach traurig fest: «Jetzt weiss ich, woher unser heutiger Chalga kommt, vom Leid unserer Grosseltern und von ihrer traurigen Poesie. Wenn nicht wir an Auschwitz erinnern, wer dann?»

Marcel Malachowski lebt als freier Autor in Berlin.


NZZ am Sonntag  7. April 2013

Gesellschaft

Aufstand der Stehgeiger

 

IhreKultur hat grosseWerke der klassischen Musik inspiriert. Doch als Musiker haben sie gegen viele

Vorurteile zu kämpfen. Deshalb haben die Roma ihr eigenesOrchester gegründet. Von Ronny Blaschke

 

Riccardo Sahiti lässt seinen schwarzen Mantel und seine grüne Mappe auf den Tisch fallen, er hat sich oft gefragt, wie sich dieser Moment anfühlen würde. Nun ist er da, der Moment, die letzten Minuten vor dem Konzert. Auf diesenMoment hat Sahiti hingearbeitet, so lange er denken kann.Riccardo Sahiti steht im schmucklosen Dirigentenzimmer der Berliner Philharmonie, eines der wichtigsten Konzerthäuser Europas. Er berührt das Klavier, denkt an seine Vorbilder, die an gleicher Stelle gewirkt haben, an Karajan, Abbado, Rattle. Sahiti ist 52 Jahre alt, doch er fühlt sich, als stünde er vor einer Schulprüfung. Er geht die ersten Noten der Partitur durch, seine Frau streicht sein schwarzes, volles Haar glatt, mustert seinen Frack nach Falten. «Wir in der Philharmonie?», fragt Sahiti und blickt ungläubig. «Was für eine Ehre.»

Gegen Klischees

Vor etwa zehn Jahren hat der Dirigent Riccardo Sahiti die Roma-und-Sinti- Philharmoniker gegründet. In der Berliner Philharmonie hebt Sahiti den Taktstock, durchschneidet die Luft mit zackigen Bewegungen. Das Orchester kommt in Fahrt. Es spielt für das Publikum, es spielt für sich, aber vor allem: gegen Klischees. «Roma» ist der Oberbegriff für ethnisch miteinander verwandte Volksgruppen. Laut einer Umfrage würden sich die meisten Europäer mit dem Gedanken unwohl fühlen, Nachbarn von Roma zu sein. Auch Riccardo Sahiti spürt die Skepsis. Obwohl man ihm grosses Talent beschied, erhielt er wieder und wieder Absagen von grossen Orchestern. Sahiti sagt: «Ich möchte mich auf die Musik konzentrieren, aber das ist nicht immer einfach.» Und so entschloss er sich, sein eigenes Orchester zu gründen. Nach Monaten der Planung gaben die Roma-und-Sinti-Philharmoniker im November 2002 in Frankfurt ihr erstes Konzert. Niemand bat um eine Gage. «Der Saal war voll, die Leute kamen tatsächlich wegen uns.» Sahiti unterdrückt seine Tränen. Er hat sich lange mit Jobs durchgeschlagen, durch das Roma-Orchester fand er seine Erfüllung. Beruflich, nicht finanziell. Riccardo Sahiti, ein Mann von zierlicher Statur mit kehliger Stimme, ist auf Musiker angewiesen, die so ticken wie er, auf Musiker wie Johann Spiegelberg. «Durch dieses Orchester verlieren wir uns nie aus den Augen», sagt der Geiger Spiegelberg, Mitglied der ersten Stunde. Er hat eine jüdische Mutter und einen Vater mit Roma- Wurzeln, seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. «Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht, ich muss auch an meinen Sohn denken.» Spiegelberg ist in Rumänien aufgewachsen, am Schwarzen Meer, er hat eine hervorragende Ausbildung genossen. Seit Ende der achtziger Jahre lebt und musiziert er in einer ostdeutschen Grossstadt. Hin und wieder lassen ihn Menschen spüren, dass er woanders herkommt, dass er anders aussieht. Neulich fuhr er nach einem Konzert im Frack zur Tankstelle, zwei Jugendliche musterten ihn in seinem Mercedes und riefen ihm zu: «In Deutschland lässt es sich gut leben auf unsere Kosten, oder?» Spiegelberg liess sich nicht provozieren. Für seine Violine hat Johann Spiegelberg einen Kredit aufgenommen, sie hat 90 000 Euro gekostet. «Mit diesem Orchester können wir zeigen, dass Roma nicht pauschal kriminell sind», sagt Spiegelberg, auch wenn ihm das zuwider ist. Bekannte Sinti und Roma wie die Sängerin Marianne Rosenberg, der Jazzmusiker Django Reinhardt oder der Dirigent Riccardo Sahiti werden von Politikern als «positive Leitbilder » herausgestellt. Sie sollen der Gesellschaft beweisen, dass Zigeuner auch singen und komponieren können. Aber ist ein Dirigent mehr wert als ein anonymer Arbeiter? «Viele Musiker», sagt Spiegelberg, «verschweigen ihre Herkunft.» Aus Angst, mehr leisten zu müssen, in Vorspielen, Proben, Konzerten. Da geht es ihnen nicht anders als Arbeitern, Akademikern, Sportlern. Spiegelberg möchte mit den Roma- Philharmonikern in ganz Europa auftreten. Doch auch in seiner ostdeutschen Wahlheimat? Er zögert, überlegt, schüttelt den Kopf: «Nein, das würde ich nicht riskieren. Wir verstehen uns gut mit unseren Nachbarn, dabei soll es auch bleiben.» Mehr als achtzig Opern waren von Roma inspiriert worden. Die grössten Komponisten haben ihre Tradition genutzt: Brahms, Liszt, Bizet. Die jüdische Klezmermusik, der andalusische Flamenco, die kubanische Rumba sind von Roma beeinflusst worden. Trotzdem reduzieren die Gesellschaften ihre Kultur auf die aufreizende Opernfigur Carmen oder den feurigen Stehgeiger. In Deutschland gibt es keine staatlich gestützte Einrichtung für Musik und Literatur der Roma. Erst seit 1997 sind Sinti und Roma in Deutschland als nationale Minderheit anerkannt. Die Philharmoniker sind das einzige Orchester ihrer Art. Vor dem Konzert in der Berliner Philharmonie Ende Januar lädt der niederländische Botschafter zu einem Empfang. Unter den Gästen ist Roger Moreno Rathgeb. Der Schweizer Sinto, der seit einigen Jahren in Holland lebt, ist zufrieden: «Dieses Werk hat mich viel Kraft gekostet. Manchmal wundere ich mich, dass ich es überhaupt fertigstellen konnte.» In Berlin werden die Philharmoniker sein Auschwitz- Requiem aufführen, eine gewaltige Totenmesse mit Chor und vier Solisten. Moreno hatte 1998 bei seinem ersten Besuch in Auschwitz beschlossen, den Opfern des Holocausts ein «lebendes Denkmal» zu setzen. Er komponierte sechs der acht Sätze, dann fand er keinen Zugang mehr. «Ich war blockiert.» Zehn Jahre später schloss Moreno die Arbeit ab.

Viel Hingabe

Die Roma-Philharmoniker haben das Requiem im Mai des vergangenen Jahres in Amsterdam uraufgeführt, während der jährlichen Gedenkfeier anlässlich des Kriegsendes. Nie zuvor standen Roma in den Niederlanden so im Mittelpunkt. «Fast jede Roma-Familie hat Mitglieder im Dritten Reich verloren », sagt Moreno. «Kein anderes Orchester kann dieses Werk mit so viel Hingabe spielen.» Beim Empfang in Berlin ist auch Norbert Lammert zu Gast, der Präsident des Deutschen Bundestages. «Dieses Orchester ist eine eindrucksvolle Demonstration des Selbstbehauptungswillens der Sinti und Roma», sagt er. Demnächst trifft Roger Moreno die niederländische Königin zum Kaffee. Sein Plan geht auf: sich bei den Mächtigen Gehör verschaffen – mit klassischer Musik. Riccardo Sahiti und Roger Moreno können nicht langfristig planen, ein Konzert mit Orchester und Chor kann bis zu 200 000 Franken kosten. Die Finanzierung für den Auftritt in Berlin war erst vor wenigen Wochen gesichert.Daher sind an diesem Abend nur wenige hundert Zuschauer gekommen, in einen Saal mit 2400 Plätzen. «Unser Projekt ist kein Geschäft, es geht um mehr», sagt Sahiti. Sein Orchester hat in Deutschland keinen festen Konzertraum, kein Büro. Sahiti träumt von einem Musikverein für Roma, mit Chor, Ballett, Kulturcampus. Noch fehlen ihm die Mittel. Es gibt nicht viele Dinge, auf die Riccardo Sahiti so stolz ist wie auf sein Orchester. Am Abend während des Konzertes in Berlin breitet er seine Arme aus, stampft auf das Pult, singt still mit den Solisten mit. Schweiss perlt von seiner Stirn, zwischen den Sätzen verharrt er einige Sekunden, sammelt seine Gedanken. Sahiti arbeitet, Sahiti geniesst. Nach dem Konzert verlässt das Publikum ergriffen den Saal. «Einen so leidenschaftlichen Dirigenten habe ich noch nicht gesehen», sagt Ellen Waldmüller, 87. «Der Mann hat mich tief berührt.» Sie hat den Krieg mit Glück überlebt, doch sie hat sich nie wirklich Gedanken über das Leid der Roma gemacht. «Ich werde mich nun mehr mit ihrer Geschichte beschäftigen», sagt sie. Ein besseres Kompliment kann sich Riccardo Sahiti nicht vorstellen.

 

 

Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt – Berliner Zeitung

Kultur

Roma und Sinti Sinfonieorchester

Das Spiel seines Leben

Prag –  

Riccardo Sahiti leitet ein Sinfonieorchester, das ausschließlich aus Sinti und Roma besteht. Er musiziert für sein Publikum – und gegen Vorurteile.

 

Riccardo Sahiti hat sich oft gefragt, wie sich dieser Moment wohl anfühlen würde. Nun ist er da, dieser Moment, die letzten Minuten vor dem Konzert. Riccardo Sahiti steht im schmuckvoll verzierten Dirigentenzimmer des Rudolfinums in Prag, einem der wichtigsten Konzerthäuser Europas. An der Wand hängen die gerahmten Fotos seiner Idole: Karajan, Kleiber, Bernstein.

Er kann schon die Gäste hören, die ihre Plätze einnehmen und sich gedämpft unterhalten. Gleich ist es soweit. Er ist 51 Jahre alt, und er fühlt sich, als stünde er vor einer wichtigen Schulprüfung.
Er schließt die Augen, geht die ersten Noten der Partitur durch, zeichnet mit seiner rechten Hand kleine Kreise in die Luft. Seine Frau streicht sein Haar glatt, sucht nach Falten in seinem Frack. Ein Klopfen. Jemand öffnet die schwere Holztür, und man sieht Frauen in Abendkleidern vorbeieilen. Sahiti muss jetzt auf die Bühne. Sein Herz pocht, sein Atem wird schneller. „Das ist wie ein Traum“, sagt er.

Fast auf den Tag vor zehn Jahren hat Sahiti die Roma-und-Sinti-Philharmoniker gegründet. Ein kleines Projekt zu Beginn, ein Streichorchester, kaum ernst genommen, und nun wird Sahiti vor sechzig Musikern stehen. Sie stammen aus Deutschland, Rumänien, Ungarn. Sie gehören einer vernachlässigten Minderheit an, von vielen pauschal nur Zigeuner genannt.

Mehr leisten als andere Kollegen

Der Saal ist voll. Riccardo Sahiti wird mit Applaus begrüßt. Er steigt aufs Pult, schaut den Musikern in die Augen, lächelt ihnen zu, sie lächeln zurück. Dann hebt er den Taktstock, durchschneidet die Luft mit zackigen Bewegungen. Das Orchester kommt in Fahrt. Es spielt fürs Publikum, es spielt für sich, aber vor allem: gegen Vorurteile.

Riccardo Sahiti wächst in den Sechzigerjahren in der Nähe von Pristina auf. Seine Eltern sind wohlhabend, schenken ihm ein Klavier, schicken ihn zur Musikschule nach Belgrad. Er probt bis zu fünfzehn Stunden am Tag. 1988 erhält er ein Stipendium in Moskau, nimmt an Wettbewerben teil. Vier Jahre später flüchtet er vor dem Kosovo-Krieg nach Frankfurt am Main. Er bewirbt sich bei Orchestern um eine Anstellung, bekommt aber immer nur Absagen. Der Direktor einer Musikschule sagt ihm: „Sie haben großes Talent, aber einen Job bekommen Sie nicht. Sie passen einfach nicht zu uns.“ Sahiti fragt, ob die Abweisung mit seiner Roma-Herkunft zu tun habe, eine Antwort erhält er nicht. „Ich dachte, dass Fleiß sich auszahlt“, sagt er heute. „Vielleicht wäre es mir mit einer deutschen oder amerikanischen Staatsbürgerschaft leichter ergangen.“ Er hat keine Verbitterung in der Stimme, keine Trauer. Er hat sich daran gewöhnt, mehr leisten zu müssen als viele Kollegen.

Die Konzertreise nach Prag hat Riccardo Sahiti monatelang vorbereitet. Zwei Tage vor dem Konzert im Rudolfinum steht er an einer Hotelrezeption. Das Haus ist ausgebucht, es fehlen drei Doppelzimmer für seine Musiker. Die Mitarbeiterin ist genervt, sie wird ein wenig lauter, spricht herablassend über das selbstverschuldete Chaos der Gäste. Sahiti, ein Mann von zierlicher Statur, kennt diesen Blick, er kennt diesen Unterton. Er weiß, mit welchen Vorurteilen Roma in Osteuropa leben müssen. In Prag hatten es seine Musiker schwer, Kontrabässe zu leihen, die Unternehmen fürchteten, sie würden die Instrumente nicht wiedersehen.

Riccardo Sahiti möchte sich auf Musik konzentrieren, auf Melodien, Dynamik, Tempi. Doch immer wieder spürt er einen Rechtfertigungsdruck für Eigenschaften, die er nie hatte, nie haben wird. „Ich weiß nicht, warum viele Menschen so viel Negatives mit uns verbinden, obwohl sie uns gar nicht kennen.“ Er achtet penibel darauf, keine Angriffsfläche zu bieten. Während des Abendessens im Restaurant entdeckt er einen Teller, der kaum berührt stehengelassen wurde. „Muss man so mit Essen umgehen?“, fragt er in die Runde. Seine Musiker heben fragend die Schultern. Die Serviererin hinter dem Tresen antwortet: „Das waren die Gäste einer anderen Gruppe, kein Problem.“

Das neue Jahrtausend hat gerade begonnen, da schafft sich Riccardo Sahiti seine eigene Form des Protests gegen Ausgrenzung. Er weiß, dass Sinti und Roma in großen Orchestern vertreten sind, in der Wiener Staatsoper, im MDR-Sinfonieorchester, im Nationalorchester Rumäniens. In Frankfurt spricht er 2001 bei der Stadt vor, bei der Landesregierung, bei Sponsoren. Er lädt Musiker ein, die wieder andere Musiker einladen.

Spielen ohne Gage

Vor den Proben lässt er sie in seiner Wohnung übernachten, zwischen Plattensammlung und Konzertplakaten. Sie diskutieren bis in die Nacht. Tagsüber verteilen sie Handzettel. Und dann, nach Monaten der Planung, geben die Roma-und-Sinti-Philharmoniker im November 2002 in Frankfurt ihr erstes Konzert. Niemand bittet um eine Gage. „Der Saal war voll, die Leute kamen tatsächlich wegen uns.“ Sahiti spricht mit brüchiger Stimme. Er hat sich lange mit Jobs durchgeschlagen, im Roma-Orchester findet er seine Erfüllung.
Riccardo Sahiti ist auf Musiker angewiesen, die so ticken wie er, auf Johann Spiegelberg zum Beispiel, der sagt: „Durch dieses Orchester verlieren wir uns nie aus den Augen.“ Spiegelberg, Geiger und Mitglied der ersten Stunde, hat eine jüdische Mutter und einen Vater mit Roma-Wurzeln, seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. „Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht, ich muss auch an meinen Sohn denken.“

Spiegelberg ist in Rumänien aufgewachsen, am Schwarzen Meer, er hat eine hervorragende Ausbildung genossen. Ende der Achtzigerjahre ist er für sein Studium nach Leipzig gegangen, seit 1998 hat er ein festes Engagement in Sachsen-Anhalt, die Stadt will er lieber nicht nennen. Denn hin und wieder lassen ihn Menschen spüren, dass er woanders herkommt, dass er anders aussieht. Als seine Locken und sein Vollbart noch dunkler waren, hörte er oft Zigeuner-Sprüche. Neulich fuhr Spiegelberg nach einem Konzert im Frack zur Tankstelle, zwei Jugendliche musterten ihn in seinem Mercedes und riefen ihm zu: „In Deutschland lässt es sich gut leben auf unsere Kosten, oder?“

„Mit diesem Orchester können wir zeigen, dass Roma nicht pauschal kriminell sind“, sagt Spiegelberg. Bekannte Sinti und Roma wie die Sängerin Marianne Rosenberg, der Jazzmusiker Django Reinhardt oder Riccardo Sahiti eben werden von Politikern als „positive Leitbilder“ herausgestellt. Sie sollen der Gesellschaft beweisen, dass Zigeuner auch singen und komponieren können. Aber ist ein Dirigent mehr wert als ein anonymer Arbeiter? „Viele Musiker wie ich“, sagt Spiegelberg, „verschweigen ihre Herkunft.“ Aus Angst, mehr leisten zu müssen, in Vorspielen, Proben, Konzerten. Da geht es ihnen nicht anders als Arbeitern, Akademikern, Sportlern mit Roma-Wurzeln.

Die engsten Freunde von Spiegelberg wissen von seiner Herkunft, aber in seinem Bekanntenkreis erzählt er nicht davon und mit den Roma-Philharmonikern würde er in ganz Europa auftreten, aber nicht in seiner ostdeutschen Wahlheimat. „Wir verstehen uns gut mit unseren Nachbarn, dabei soll es auch bleiben“, sagt er.

Spiegelberg möchte seine Musik sprechen lassen. Er hat den Bürgermeister einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt überredet, ein Orchester zu gründen, das Durchschnittsalter liegt bei 26 Jahren. Die Musiker stammen aus Deutschland, Japan, Ungarn, Australien. Spiegelberg redet mit ihnen nicht viel über Herkunft und Vergangenheit. „Sie sollen gemeinsam den richtigen Klang finden. Nur das zählt.“

Am Abend vor dem Konzert in Prag treffen sich Riccardo Sahiti, Johann Spiegelberg und einige Kollegen im Foyer des Hotels. Sie vergleichen ihre Instrumente, sie singen, lachen, zitieren Beethoven oder Schubert. „Wie auf einer Klassenfahrt“, sagt Riccardo Sahiti und lacht sein kehliges Lachen. Einen Konkurrenzkampf wie in ihren Heimatorchestern gebe es hier nicht. „Wir wollen unser kulturelles Erbe weitertragen.“ Johann Spiegelberg streut ein feuriges Solo ein, bewegt seinen Oberkörper vor und zurück, er spielt mit dem Klischee des leidenschaftlichen Stehgeigers, doch mit seinem musikalischen Alltag hat das wenig zu tun.

Mehr als achtzig Opern sind von Roma inspiriert worden. Große Komponisten haben ihre Tradition genutzt: Brahms, Liszt, Bizet. Die jüdische Klezmermusik, der andalusische Flamenco, die kubanische Rumba sind von Roma beeinflusst worden. Trotzdem wird ihre Kultur oft auf die aufreizende Opernfigur Carmen reduziert. Trotzdem gibt es in Deutschland keine staatlich gestützte Einrichtung für Musik und Literatur der Roma oder für ihre Sprache Romanes. Erst seit 1997 sind Sinti und Roma hierzulande als nationale Minderheit anerkannt. Die Philharmoniker sind das einzige Orchester ihrer Art.

Wenige Stunden noch bis zum Konzert, die Generalprobe steht an. Riccardo Sahiti steht am Pult, dreht sich um, blickt in die Zuschauerreihen. In der Mitte sitzt Roger Moreno Rathgeb und hebt seinen rechten Daumen. Der Komponist, ebenfalls Sinto, ist zufrieden und sagt: „Dieses Werk hat mich viel Kraft gekostet. Manchmal wundere ich mich, dass ich es überhaupt fertigstellen konnte.“ In Prag werden die Philharmoniker sein Auschwitz-Requiem aufführen, eine gewaltige Totenmesse mit Chor und vier Solisten. Moreno hatte 1998 bei seinem ersten Besuch in Auschwitz beschlossen, den Opfern des Holocausts ein „lebendes Denkmal“ zu setzen, wie er es nennt. Er komponierte sechs der acht Sätze, dann fand er keinen Zugang mehr. „Ich war blockiert.“ Zehn Jahre später erst konnte Moreno die Arbeit abschließen.

Die Roma-Philharmoniker haben das Requiem im Mai des vergangenen Jahres in Amsterdam uraufgeführt, während der jährlichen Gedenkfeier anlässlich des Kriegsendes. Nie zuvor standen Roma in den Niederlanden so im Mittelpunkt. „Fast jede Roma-Familie hat Mitglieder im Dritten Reich verloren“, sagt Moreno. „Kein anderes Orchester kann dieses Werk mit so viel Hingabe spielen.“ Demnächst trifft er die niederländische Königin zum Kaffee. Er will sich bei den Mächtigen Gehör verschaffen – durch Musik.

„Es geht um mehr“

Riccardo Sahiti nutzt die Pause zwischen Generalprobe und Konzert für einen Spaziergang. Vor dem Rudolfinum bleibt er an dem Denkmal von Antonin Dvorák stehen. Seine Frau Elisabeth, eine Zahnärztin aus Breslau, macht Fotos, greift seinen Oberarm und sagt, dass abends schon alles glattgehen werde. „Unser Projekt ist kein Geschäft, es geht um mehr“, sagt Sahiti. Sein Orchester hat in Deutschland keinen festen Konzertraum, kein Büro. Sahiti träumt von einem Musikverein für Roma, mit Chor, Ballett, Kulturcampus. Aber ihm fehlen die Mittel.

Allein das Konzert in Prag kostet 100? Euro, bezahlt von europäischen Förderern. Die meisten der etwa 1? Plätze im Rudolfinum gingen kostenlos an Initiativen gegen Diskriminierung, an Politiker, Stiftungen, Partner. Das gewöhnliche Konzertpublikum ist kaum vertreten. Die tschechischen Medien haben vorab über die Roma-Philharmoniker berichtet, sagt Jitka Jurková aus dem Organisationsteam: „Doch die politische Botschaft ist kaum transportiert worden. Sie wurden wie viele Roma als Exoten dargestellt.“

An diesem Dienstag wird das Orchester das Requiem in der Berliner Philharmonie aufführen, die Finanzierung ist erst seit wenigen Wochen gesichert. Sahiti wird weiter die Nächte durcharbeiten, Briefe mit Bitten um Spenden und Einladungen in seinen Computer tippen.

Alexandra Maria Neaga aus Bukarest ist mit 24 eines der jüngsten Mitglieder der Roma-Philharmoniker. „Durch das Orchester lerne ich viel über unsere Geschichte“, sagt sie. Sie hatte zuvor nicht wirklich über ihre Roma-Wurzeln nachgedacht. Neulich sprach ihr Großvater sie auf aktuelle Projekte an. Sie erzählte ihm von Riccardo Sahiti, er berichtete ihr von verblassenden Traditionen der Roma. „Das ist interessant“, sagt Neaga, die ihr Studium für Kontrafagott in München fortsetzen möchte, „aber entscheidend sind diese Fragen für die junge Generation nicht. Nicht mehr.“

Es gibt nicht viele Dinge, auf die Riccardo Sahiti so stolz ist wie auf sein Orchester. Am Abend während des Konzertes in Prag breitet er seine Arme aus, stampft auf das Pult, singt still mit den Solisten mit. Schweiß perlt von seiner Stirn, zwischen den Sätzen verharrt er einige Sekunden, sammelt seine Gedanken. Sahiti arbeitet, Sahiti genießt.

Das Requiem für Auschwitz endet mit leisen Glockenschlägen, wie Nebel löst sich der Klang auf. Langsam lässt der Dirigent seinem Arm sinken, der Applaus setzt ein und hört lange nicht auf. Sahiti strahlt, ein bisschen ungläubig, seine Musiker umarmen ihn, klopfen ihm auf die Schulter. „Wenn es einer verdient hat, dann du“, sagt der Geiger Johann Spiegelberg. Doch Riccardo Sahiti denkt schon an das nächste Konzert in Berlin, an die Bühne von Karajan, Abbado, Rattle. Auch auf diesen Moment hat er hingearbeitet, und wieder wird er Lampenfieber haben. Aber er weiß, dass Lampenfieber süchtig machen kann.




 

Von wegen Folklore

Seit zehn Jahren gibt es die Roma und Sinti Philharmoniker Frankfurt am Main, ein Projektorchester mit gut 60 Musikern

Plass, Christoph

erschienen in: das Orchester 05/2013, Seite 43   

Riccardo M. Sahiti ist ein Bohrer. Keine dieser Schlagbohr-Maschinen, die binnen Sekunden ein Loch in die Wand donnern, auch keiner dieser Zahnarzt-Apparate, die sirrend den Patienten pieksen und dann zurück in die Halterung gesteckt werden: Riccardo M. Sahiti ist wie eines jener Geräte, mit denen man einen Tunnel durch einen Berg fräsen kann. Mit langsamen Umdrehungen gräbt er sich voran, baut sachten aber konstanten Druck aufs Gestein auf, braucht nur ein wenig Wasser zum Gleiten bisweilen. Sein Ziel: eine Stelle ganz tief im Innern jenes Berges mit Namen Musik, wo der für ihn größte Schatz vergraben ist – das Vermächtnis seines Volksstammes, der Roma, an all die Komponisten und Musiker der Erde. „Wir haben der Welt so viel gegeben“, sagt er. „Und lange hat sie uns nichts zurückgegeben.“ Ein bisschen zumindest hat sich das nun geändert.
Riccardo M. Sahiti ist Gründer, Vorsitzender und künstlerischer Leiter der Roma und Sinti Philharmoniker mit Sitz in Frankfurt. Vor zehn Jahren hat er das Orchester mit dem Ziel ins Leben gerufen, insbesondere die musikalischen Werke aufzuführen, die in der Kultur der beiden Volksstämme verwurzelt oder die durch sie inspiriert sind. Das hat nichts mit Folklore zu tun, betont er: „Die großen Komponisten haben uns gesehen und gehört – und haben sich durch unsere Musik inspiriert gefühlt.“ Beethoven, Liszt oder Bizet seien Weltbürger gewesen, sie hätten genau gewusst, worin das Vermächtnis der beiden Volksstämme liege und wie man es der Welt nahe bringen könne. Von Brahms Ungarischen Tänzen bis zum Strauß’schen Zigeunerbaron gebe es viele populäre Beispiele. „Das waren damals Kooperationen zwischen Menschen“, sagt Sahiti. „Jeder hat etwas gegeben und etwas dafür bekommen, unabhängig von seiner Herkunft.“ Das, was die musikalische Welt in ihren guten Epochen geschafft hat, hat die Politik später jedoch gründlich versaut. Auch ein Grund für die Existenz der Roma und Sinti Philharmoniker – des einzigen Orchesters seiner Art auf der Welt.
Das Orchester steht unter dem Schirm des Philharmonischen Vereins der Sinti und Roma Frankfurt am Main, den Riccardo M. Sahiti und einige wenige Mitstreiter 2001 gegründet haben. Doch Aufmerksamkeit erregen die Musiker erst seit einem guten Jahr: Noch Anfang 2011 saßen bei einem Zeitungsinterview zehn, 15 Leute in seiner Küche zusammen, aus denen das Orchester bestand. Ihr Ziel: Die Gruppe bis zum Herbst auf Philharmonie-Stärke aufzustocken und beim Beethovenfest Bonn zu spielen. Das haben sie dann auch gemacht.
Die Roma und Sinti Philharmoniker sind ein Projektorchester mit gut 60 Musikern, sieben oder acht Konzerte geben sie pro Jahr. Die Mitglieder gehören allesamt einem der beiden Volksstämme an, sind sämtlich professionelle Musiker. In den Orchesterreihen sitzen Mitglieder der Wiener Philharmoniker und des MDR Sinfonieorchesters Leipzig, andere kommen aus den großen Orchestern in München, Budapest, Luxemburg oder Bukarest. „Ich habe auch einen Vater und seinen Sohn hier, zwei Ungarn – dort hat die musikalische Ausbildung noch Familientradition“, sagt Sahiti. So ist sein Orchester ein Mix der beiden Stämme, ein Zusammenwirken der Generationen mit Spielern zwischen 25 und 60 Jahren, und gleichzeitig auch ein Zusammentreffen der unterschiedlichsten Kulturen. „Sinti und Roma leben überall, in allen Ländern Europas – und wir haben uns integriert“, betont er.
So entwickeln sich aus den drei- bis viertägigen Probenphasen vor den Konzerten immer große – „und großartige“ – Diskussionsrunden. Da beanspruchen viele die einzig richtige Liszt-Interpretation für sich, sie gehören schließlich zu seinen gedanklichen Erben – genauso wie alle anderen im Saal, die aber mitunter einen völlig anderen Ausbildungs- und Lebenshintergrund haben. „Da sind meist viele Emotionen im Spiel, hier kommt ganz viel Wissen zum Vorschein. Und jede Menge Farbe“, sagt Sahiti. Das sei es auch, mit dem die Roma und Sinti Philharmoniker punkten könnten: jenes Emotions-Plus, jene musikalische Farbenvielfalt, die eben sie ganz besonders intensiv erwecken können. Weil sie eine ganz andere Verbindung zur Musik hätten, die sie spielen, als ein anderes Orchester, sagt der Dirigent.
Das allein führt aber natürlich nicht zum Erfolg: Auch die Philharmoniker brauchen eine monetäre Grundlage. Die Stadt Frankfurt fördert den Verein mit kleinen Beträgen, ebenso der Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland, und die Frankfurter Oper stellt bei Bedarf einen Probenraum zur Verfügung. „Wir leben mit geringsten Mitteln“, sagt Sahiti. Er hält sein Orchester ansonsten nur mit den Gagen für die Konzerte am Leben. Und da die Musiker von weither anreisen, werden die Beträge meist eins zu eins in Benzin umgewandelt: „Oft reichen die Gagen nicht einmal für die Spritkosten.“
Die Musiker kommen aus Idealismus. Weil sie es als große Freude empfinden, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und etwas auf die Beine zu stellen, erstens. Und weil sie eine Botschaft haben, zweitens. Denn die Geschichte ihrer Völker ist von zu vielen dunklen Stunden durchwirkt, als dass sie sie vergessen wollten. Oder dürften. Ihr wichtigstes Projekt im vergangenen Jahr war das Requiem für Auschwitz von Roger Moreno-Rathgeb: Am 3. Mai spielten sie die Uraufführung in Amsterdam, reisten dann damit in die Konzerthäuser von Budapest, Prag, Frankfurt und Berlin. Das holländische Fernsehen, WDR und Deutsche Welle gehörten zu den zahlreichen Medien, die die Aufführung und ihre Bedeutung einfingen.
Das Requiem für Auschwitz ist für Riccardo M. Sahiti eines jener Stücke, mit dem er mehr Politik als Musik machen möchte. „Ich hatte mich zuvor oft mit Roger Moreno-Rathgeb, einem Sinti-Musiker, getroffen. Wir haben über die Partitur gesprochen, über die Orchestrierung – und über die Geschichte.“ Moreno-Rathgeb habe nach einem Auschwitz-Besuch gespürt, dass unzählige Menschen noch nicht ihre ewige Ruhe gefunden haben. „Die Menschen schreien, aber niemand hört sie!“, sagt Riccardo M. Sahiti. Er gehört selbst zu jenen, die schreien könnten: Er stammt aus einem kleinen Dorf im ehemaligen Jugoslawien, im Krieg verlor seine Familie alles, was sie hatte. „Mein Vater wurde aus seinem Haus und seinem Land verbannt, musste alles zurücklassen, was er sich in 75 Lebensjahren geschaffen hatte. Er ist in Russland gestorben, 400 Kilometer von seiner Heimat entfernt.“ Das Werk, so erklärt Sahiti, soll ein kleines Stück Versöhnung sein: „Denn am Ende sollten wir alle verzeihen. Wir wissen nämlich: Wir werden immer wieder Neues schaffen.“

 

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