REQUIEM FÜR AUSCHWITZ
von Roger Moreno-Rathgeb

Presse Prag

 

Musik gegen Klischees

Süddeutsche Zeitung, PANORAMA, Dienstag, 27. November 2012


Konzertkritik München Seite 9, Bayern Seite 9


Der „Frankfurter Philharmonische Verein der Sinti und Roma“ besteht aus 60 Musikern, die der ethnischen Minderheit angehören.

Das Orchester zeigt bei seinen Auftritten, dass die Roma-Kultur absolut nichts mit „lustigem Zigeunerleben“ zu tun hat


VON RONNY BLASCHKE


Prag – In den letzten Minuten vor dem Konzert fragt sich Riccardo Sahiti, ob er in einemTraum ist. Er steht im verzierten Dirigentenzimmer des Rudolfinums in Prag, einem der wichtigsten Konzerthäuser Europas.


„Vielleicht wäre es mir mit einer deutschen Staatsbürgerschaft leichter ergangen.“


Der Mann blickt auf die gerahmten Fotos seiner Idole, auf Karajan, Kleiber, Bernstein, und legt die rechte Hand auf das Klavier. Riccardo Sahiti ist 51 Jahre alt, doch er ist nervös wie ein Junge vor der Schulprüfung. Er schließt die Augen, geht die ersten Noten der Partitur durch. Seine Frau greift ihm über die Schulter und streicht sein schwarzes, volles Haar glatt. Ein Klopfen, jemand öffnet die schwere Holztür, hinein dringt das laute Stimmengewirr der Gäste. Sahiti nestelt an seinem Frack, gibt seiner Frau einen Kuss auf die Wange. Er muss auf die Bühne. Riccardo Sahiti wird mit langem Applaus begrüßt, der Saal ist ausverkauft. Er geht ans Pult, schaut den Musikern in die Augen, er lächelt, und alle lächeln zurück. Fast auf denTag vor zehn Jahren hat Sahiti die Roma-und-Sinti-Philharmoniker gegründet. Es war ein kleines Projekt zu Beginn, wurde kaum ernst genommen, doch nun steht Sahiti vor sechzig Musikern, sie stammen aus Deutschland, Rumänien, Ungarn. Die Mitglieder des Orchesters gehören einer Minderheit an, einige wurden als Zigeuner beschimpft, andere gemobbt. Im Rudolfinum spielt das Orchester fürs Publikum, für sich – und gegen Klischees. Riccardo Sahiti ist in der Nähe von Pristina im Kosovo aufgewachsen. Seine Eltern waren wohlhabend, schenkten ihm ein Klavier, schickten ihn auf die Musikschule nach Belgrad. Er probte bis zu 15 Stunden am Tag, erhielt 1988 ein Stipendium in Moskau, vier Jahre später flüchtete er vor dem Kosovo-Krieg nach Frankfurt. Er bewarb sich bei Orchestern um eine Anstellung. Immer wieder bekam er Absagen. Der Direktor einer Musikschule sagte ihm einmal: „Sie haben großes Talent, aber Sie passen nicht zu uns.“ Sahiti fragte, ob die Abweisung mit seiner Roma-Herkunft zu tun habe, eine Antwort erhielt er nicht. „Vielleicht wäre es mir mit einer deutschen oder amerikanischen Staatsbürgerschaft leichter ergangen.“


„Mit diesem Orchester können wir zeigen, dass Roma nicht pauschal kriminell sind.“
 

Anfang des Jahrtausends schuf Riccardo Sahiti dann seine eigene Form des Protests. Er wusste, dass Sinti und Roma in großen Orchestern vertreten sind, in der Wiener Staatsoper, im MDR-Sinfonieorchester in Leipzig, im Nationalorchester Rumäniens. Er lud Musiker ein, die andere Musiker einluden. Vor den Proben ließ er sie in seiner Wohnung übernachten, zwischen Plattensammlung und Konzertplakaten, sie diskutierten bis in die Nacht. Tagsüber verteilten sie Flugblätter. Und dann, nach Monaten der Planung, gaben die Roma-und-Sinti-Philharmoniker im November 2002 in Frankfurt ihr erstes Konzert. Niemand bat um eine Gage. „Der Saal war voll, die Leute kamen tatsächlich wegen uns.“ Sahiti spricht mit brüchiger Stimme, er unterdrückt seine Tränen. Er musste sich lange mit Jobs durchschlagen, durch das Roma-Orchester fand er seine berufliche Erfüllung, wenn auch nicht seine finanzielle. „So verlieren wir uns nicht aus den Augen“, sagt der Geiger Johann Spiegelberg, Mitglied der ersten Stunde. Spiegelberg hat eine jüdische Mutter und einen Vater mit Roma-Wurzeln, seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. „Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht, ich muss auch an meinen Sohn denken.“ Spiegelberg ist in Rumänien aufgewachsen, am Schwarzen Meer, er hat eine hervorragende Ausbildung genossen. Seit zwei Jahrzehnten lebt und musiziert er in einer ostdeutschen Großstadt. Hin und wieder lassen ihn Menschen spüren, dass er woanders herkommt. Neulich fuhr er nach einem Konzert, noch im Frack, mit seinem Mercedes zur Tankstelle; zwei Jugendliche musterten ihn und riefen: „In Deutschland lässt es sich gut leben auf unsere Kosten.“ Spiegelberg ließ sich nicht provozieren. „Mit diesem Orchester können wir zeigen, dass Roma nicht pauschal kriminell sind“, sagt Johann Spiegelberg, auch wenn ihm das zuwider ist. Bekannte Sinti und Roma wie die Sängerin Marianne Rosenberg, der Jazzmusiker Django Reinhardt oder der Dirigent Riccardo Sahiti werden von Politikern als Leitfiguren herausgestellt.Doch viele Musiker verschweigen laut Spiegelberg trotzdem ihre Herkunft, aus Angst vor Vorurteilen. Aus Angst, noch mehr leisten zu müssen, in Vorspielen, Proben, Konzerten. Da geht es ihnen nicht anders als Arbeitern, Akademikern, Sportlern. In Prag hatten es die Organisatoren schwer, Kontrabässe für die Roma-Philharmoniker zu leihen. Die Verleih-Unternehmen fürchteten, sie würden die Instrumente nicht wieder sehen. Am Abend vor dem Konzert in Prag treffen sich einige Orchester-Mitglieder im Foyer des Hotels. Sie vergleichen ihre Instrumente, sie singen, lachen, zitieren Beethoven oder Schubert. „Wie auf einer Klassenfahrt“, sagt Riccardo Sahiti und lacht sein kehliges Lachen. Er ist freundlich,neugierig, ein bisschen chaotisch, er sagt, einen Konkurrenzkampf wie in den Heimatorchestern gebe es hier nicht. „Wir wollen unser kulturelles Erbe weitertragen“, sagt Sahiti. Mehr als achtzig Opern sind von Roma inspiriert worden. Die jüdische Klezmermusik, der andalusische Flamenco, die kubanische Rumba sind von Roma beeinflusst worden. Trotzdem wird ihre Kultur oft auf den feurigen Stehgeiger oder die Opernfigur Carmen reduziert. Und trotzdem gibt es in Deutschland keine staatliche Einrichtung für Musik und Literatur der Roma, auch nicht für ihre Sprache Romani. Erst seit 1997 sind Sinti und Roma hierzulande als nationale Minderheit anerkannt. Die Philharmoniker sind das einzige Orchester dieser Art.

In Prag führen die Philharmoniker das „Auschwitz-Requiem“ auf, eine gewaltige Totenmesse mit Chor und vier Solisten, komponiert von Roger Moreno, einem Schweizer Sinto. „Dieses Werk hat viel Kraft gekostet“, sagt Moreno. „Manchmal wundere ich mich, dass ich es fertig stellen konnte.“ Als Schüler war er als „Stink-Zigeuner“ beschimpft worden, als Musiker blieben ihm viele Türen verschlossen, er gründete mit seiner Frau ein traditionelles Musik-Ensemble. Bei seinem ersten Besuch 1998 in Auschwitz beschloss er, den Opfern des Holocaust ein „lebendes Denkmal“ zu setzen. „Wenige Menschen wissen, dass 500 000 Sinti und Roma von den Nazis ermordet wurden“, sagt Moreno. Er komponierte sechs der acht Sätze seines Requiems, dann fand er keinen Zugang mehr, war „blockiert“. Zehn Jahre später schloss er die Arbeit ab. Die Roma-Philharmoniker haben das Requiem im vergangenen Mai in Amsterdam uraufgeführt,während der jährlichen Gedenkfeier zum Kriegsende. Nie zuvor standen Roma in den Niederlanden so im Mittelpunkt. Demnächst trifft Roger Moreno Königin Beatrix zum Kaffee. Er will sich bei den Mächtigen Gehör verschaffen. Durch Musik. Er möchte die Öffentlichkeit nutzen, um Bildungsdefizite und Asylrecht für Roma ansprechen. An diesem Mittwoch führen die Philharmoniker das Auschwitz-Requiem in der Alten Oper in Frankfurt auf, die Finanzierung steht. Ende Januar möchten sie in Krakau auftreten, vielleicht auch in der Berliner Philharmonie. Vieles ist improvisiert. Das Orchester hat keinen festen Proberaum, keine Geschäftsstelle. Riccardo Sahitit räumt von einem Musikverein, mit Chor, Ballett, Kulturcampus. Noch fehlen die Mittel. Allein das Konzert in Prag kostet 100 000 Euro, ermöglicht wird es durch europäische Förderer und tschechische Aktivisten. Die meisten der etwa 1000 Plätze im Rudolfinum gingen kostenlos an Initiativen gegen Diskriminierung, an Politiker, Stiftungen, deren Partner. Das gewöhnliche Konzertpublikum ist kaum vertreten.


„Die politische Botschaft ist kaum transportiert worden. Sie wurden wie immer als Exoten dargestellt.“


Die tschechischen Medien haben vorab viel über die Roma-Philharmoniker berichtet, sagt Jitka Jurková aus dem Organisationsteam:„ Doch die politische Botschaft ist kaum transportiert worden. Sie wurden wie immer als Exoten dargestellt.“ Sie glaubt, dass sich an der Roma-Feindlichkeit, am sogenannten Antiziganismus, wenig ändern wird. Am Abend während des Konzertes ist das alles kein Thema. Riccardo Sahiti breitet seine Arme aus, Schweiß perlt von seiner Stirn. Er arbeitet, er genießt. Das Requiem endet mit leisen Glockenschlägen, langsam lässt Sahiti seinen Arm sinken. Der Applaus dauert fast eine Viertelstunde. Später am Abend steht Sahiti allein auf der Bühne und blickt ehrfürchtig auf die riesige Orgel. Am nächsten Morgen will das Orchester weiter zum Konzert nach Budapest reisen, in Ungarn sind Roma oft Opfer von Gewalt. „Das war erst der Anfang“, sagt Sahiti. Dann sammelt er die Notenblätter ein, die seine Kollegen vergessen haben.

 

 

A Requiem For Europe's Worst Prejudices, Behold The Gypsy Philharmonic

By Ronny Blaschke

SUDDEUTSCHE ZEITUNG/Worldcrunch

PRAGUE - A few minutes before the concert starts, Riccardo Sahiti says he can’t believe all this is real, that it’s not a dream. He’s standing in the ornate conductor’s room of the Rudolfinum in Prague – one of Europe’s premier concert halls. All around him are photographs of his idols – conductors such as Herbert von Karajan, Carlos Kleiber, Leonard Bernstein.

Sahiti is 51 years old but he’s as nervous as a schoolboy facing exams. He walks over to the piano, closes his eyes, plays the first few notes of the piece he’s about to conduct. His wife comes over to smooth out his full black hair. There’s a knock on the heavy wooden door, and when it opens the loud buzz of the audience chatting in the hall fills the room. Sahiti adjusts his coat jacket one last time, kisses his wife on the cheek, and heads for the conductor’s podium.

The concert is sold out, and Sahiti’s appearance is met with a long round of applause. On the podium, he looks the musicians in the eyes, smiles, and they smile back. Nearly 10 years ago to the day, Sahiti founded the Roma and Sinti Philharmonic. It started out as a small project, which was hardly taken seriously. Now Sahiti stands before 60 musicians, from Germany, Romania, Hungary. All the orchestra members belong to the ethnic minority called Roma or Sinti: Gypsies; some of them have been abused, others bullied. At the Rudolfinum, they are playing for the public, but also for themselves – and against centuries of stereotypes.

Riccardo Sahiti grew up near Pristina in Kosovo. Musically inclined, he was lucky to have wealthy parents who could afford to buy him a piano and send him to study at the conservatory in Belgrade. He practiced up to 15 hours a day, and in 1988 won a scholarship to study in Moscow.

When war broke out in Kosovo in 1992, he fled to Frankfurt where he auditioned for a place in several orchestras. He was always turned down. The director of one music school told him: “You have a lot of talent, but you don’t fit in here.” Sahiti asked if that was because of his Roma origins but didn’t get an answer. "It might have been a lot easier if I’d had been German or American,” he says.

At the start of the new millennium, Sahiti decided to engage in an original form of protest. He knew that there were a few Sinti and Roma musicians in the big orchestras like the Vienna State Opera, the Leipzig-based MDR Symphony (Germany’s oldest radio orchestra) and the Romanian National Orchestra. He invited them, and musicians who invited other musicians. He would let them stay in his apartment, and at night in his living room, crowded with concert posters and his record collection, they talked late into the night.

During the day, they rehearsed and handed out flyers. Then, after months of planning, in Nov. 2002 in Frankfurt, the Roma and Sinti Philharmonic gave its first concert. None of the musicians asked to be paid. "The concert hall was packed; people actually came out to hear us,” says Sahiti holding back tears.

Hiding their origins

Johann Spiegelberg was one of the original members of Sahiti’s orchestra. Spiegelberg has a Jewish mother and a father with Roma roots. Spiegelberg is not his real name, which he does not want revealed.

"I’ve had some bad experiences, I have to think of my son,” he says. He grew up in Romania, on the Black Sea coast, and received a first-class musical education. For two decades he has lived and worked in a large city in the eastern part of Germany where, he says, now and again people still make him feel he’s not one of them. He relates how recently he was on his way to a concert, wearing his coat jacket, and when he drove into a gas station to fill up his Mercedes a couple of youths spotted him and called over: “You people live well in Germany, at our expense." He says he didn’t respond to the taunt.

The Sinti and Roma orchestra is a way of showing "that we’re not criminals," Spiegelberg says, adding that this stereotype revolts him. And although famous Sinti and Roma like singer Marianne Rosenberg, jazz musician Django Reinhardt – and conductor Riccardo Sahiti – are made much of, according to Spiegelberg, many less well-known musicians of Sinti and Roma heritage keep quiet about it out of fear of prejudice. In Prague, for example, the orchestra had trouble renting double basses because rental firms thought they might never see the instruments again.

Passing on a cultural heritage

On the evening before the concert in Prague, some orchestra members gathered in the lobby of the hotel. They compared instruments, chatted about Beethoven and Schubert, sang, laughed. "It’s like a class trip," Sahiti laughs. He says rivalries such as one sees in other orchestras are absent in this one because "we all want to pass on our cultural heritage."

It is a considerable heritage. Over 80 operas were inspired by Roma. Jewish Klezmer music, Andalusian flamenco, the Cuban rumba were also all inspired by Roma. Despite this, Roma culture is often written off as being about little more than fiery violin players or Carmen in Bizet’s 1875 opera. In Germany, no state institution teaches Roma music or literature, or even the Romani language. Sinti and Roma were only recognized as one of Germany’s official minorities in 1997. The Philharmonic is the only orchestra of its type.

In Prague, the Philharmonic played the "Auschwitz Requiem," a powerful piece for orchestra, four soloist singers and a choir, composed by Roger Moreno, a Swiss Sinto. "Writing it took so much energy, " Moreno says. "I sometimes wonder how I was even able to finish it."

He remembers being called a “smelly Gypsy” when he was in school, and that many doors were closed to him as a musician. So with his wife, he created an ensemble to play traditional music. After his first visit to Auschwitz in 1998 he decided to write what would be a "living monument" to Holocaust victims. "Very few people know that the Nazis murdered 500,000 Sinti and Roma," he says. He wrote six of the eight stanzas of his requiem right away, then suffered ten long years of “composer’s block” before he was able to complete the work.

The Roma Philharmonic premiered the piece last May in Amsterdam during the annual celebrations marking the end of World War II. Never before in the Netherlands had the Roma received so much public attention: Queen Beatrix even invited Moreno for coffee.

The Philharmonic was signed up to play the “Auschwitz Requiem” at Frankfurt’s Old Opera House, with plans to play in Kracow and possibly Berlin in January. Much has to be improvised, as the orchestra has no permanent rehearsal space, no office. Sahiti dreams of creating a music association with a choir, ballet, and a cultural campus, but lacks financing.

The 100,000-euro cost of the Prague concert was paid for by European sponsors and Czech activist groups. Most of the tickets in the 1,000-seat concert hall were handed out free to people leading anti-discrimination initiatives, foundations, and politicians – there are hardly any “regular” concertgoers.

While the Czech media did report quite extensively on the orchestra’s appearance, says Jitka Jurková, a member of the organizing team, "they barely said a word about the political message. The orchestra was portrayed in the usual way, as something ‘exotic’." She doesn’t believe that the concert will do much to decrease animosity to the Sinti and Roma.

But none of this is an issue on the night of the concert. Sahiti raises his arms; the music starts. How much he enjoys his work is clear to the last notes of the requiem, which ends with soft bell-like sounds. Slowly, Sahiti lowers his arms. The applause lasts for nearly 15 minutes. Tomorrow morning the orchestra moves on to Budapest to give a concert there.

As he moves about the empty stage collecting some sheet music forgotten by his musician colleagues, he looks up: "This is just the beginning..."

 

Requiem für Auschwitz in Prag: Sinti- und Roma-Orchester spielt zum Gedenken an Holocaust-Opfer

10-11-2012 - Marco Zimmermann
Am vergangenen Sonntagabend war im Prager Rudolfinum der Frankfurter Philharmonische Verein der Sinti und Roma zu Gast. Es ist das einzige Orchester in ganz Europa, das aus professionellen Sinti- und Roma-Musikern besteht. Auf dem Programm stand das Stück „Requiem für Auschwitz“, das von Roger Moreno-Rathgeb komponiert wurde. Es soll an die Opfer des Nationalsozialismus, insbesondere an die Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma erinnern.

Frankfurter Philharmonischer Verein der Sinti und Roma (Foto: ČTK)Der Konzertsaal Rudolfinum in Prag war am Sonntag bis auf den letzten Platz besetzt, als Europas einziges Roma-Orchester das „Requiem für Auschwitz“ aufführte. Den Auftritt in Tschechien hatte die Nichtregierungsorganisation „Slovo 21“ organisiert. Sie engagiert sich für die Roma hierzulande. Organisatorin Karla Čížková:

„Das Orchester spielt hauptsächlich in Frankfurt am Main. Die Musiker stammen aber aus den verschiedensten Ländern. Es sind vorwiegend Roma, vor allem aus Deutschland, Österreich, Ungarn und Rumänien. Geleitet wird das internationale Ensemble von Riccardo Sahiti, einem Roma-Dirigenten.“

Riccardo Sahiti (Foto: Archiv Slovo 21) Das Orchester besteht aus 80 professionellen Musikern. Ricardo Sahiti erzählt, wie er es aufgebaut hat:

„Ich habe überlegt, dass es in den Jahrhunderten noch nie ein philharmonisches Sinti- und Roma-Orchester gegeben hat - obwohl Dvořák und Smetana Zigeunerlieder und natürlich slawische Tänze komponiert hatten, ebenso wie viele andere tschechische und deutsche Komponisten, zum Beispiel Schumann, Beethoven, Mozart und auch Bach. Diese großen Komponisten waren inspiriert von der Musik der Sinti und Roma. Die Sinti und Roma sind Bürger der Europäischen Union, aber haben noch nie gemeinsam gespielt.“

Foto: Jana ŠustováRiccardo Sahiti selbst stammt aus dem Kosovo, er hat in Belgrad Musik studiert und ist später dann nach Moskau und Deutschland gegangen. In Frankfurt am Main hat er an der Hochschule für musikalische Künste beim tschechischen Dirigenten Jiří Stárek gelernt. Stárek war bis zu seiner Emigration 1968 Chefdirigent des Prager Rundfunkorchesters.

Nach seiner umfangreichen Ausbildung startete Sahiti das Sinti- und Roma-Orchester. Mit dem „Requiem für Auschwitz“ und dem Komponisten Roger Moreno-Rathgeb kam er jedoch erst später in Kontakt:

Auschwitz (Foto: Barbora Kmentová) „Er kam und sagte: ‚Ich habe gehört, du hast ein Orchester, ich werde ein Werk für dich komponieren.’ Ich habe gesagt: ‚Jaja, ständig kommen Leute und wollen ein Werk komponieren’. Ich habe das also nicht ernst genommen. Aber 2008 kam er nach Frankfurt am Main und brachte das Stück ‚Requiem für Auschwitz’ mit. Daraus ist ein unglaubliches Werk, ein Werk für die Ewigkeit geworden.“

Karla Čížková von der Organisation „Slovo 21“ beschreibt den Komponisten des Requiems:

„Roger Moreno-Rathgeb ist ein niederländischer Komponist mit Roma-Wurzeln. Er war ein Autodidakt, der erst spät Noten lernte und zu komponieren begann. Eine der Dinge, die ihn interessierten, waren die Opfer des Holocaust. Also hat er sich entschieden, dazu eine Komposition zu schreiben. Allerdings hat er sich damit am Anfang sehr schwer getan.“

Roger Moreno-Rathgeb (Foto: Archiv Slovo 21)Wie er auf die Idee kam, ein Musikstück über Auschwitz zu komponieren, erklärte Roger Moreno-Rathgeb:

„Die Idee ist mir gekommen, als ich 1998 das erste Mal Auschwitz besucht habe. Als ich dort diesen Horror gesehen habe, dachte ich mir, ich will ein lebendes Denkmal machen für all die Opfer, die dort gestorben sind. Sie haben alle in demselben Elend gelebt, sie haben alle dieselben Ängste, denselben Hunger gehabt und dieselben Schläge bekommen. Sie haben alle denselben Weg in die Gaskammer gehen müssen, ob sie Juden, Sinti, Roma, Tschechen oder Polen oder wer auch immer waren. Darum wollte ich ein lebendes Denkmal für alle Opfer schaffen.“

Foto: Jana ŠustováAllerdings sollte die Fertigstellung des Werkes noch etwas länger dauern:

„Ich bin nach meinem ersten Besuch 1998 nach Hause gegangen und habe begonnen zu arbeiten. Nach ungefähr fünf oder sechs Monaten war meine Inspiration plötzlich weg. Ich war leer. Ich dachte dann, vielleicht müsse ich noch einmal zurück nach Auschwitz. Ich bin dann 1999 wieder dorthin gefahren, aber das war leider ein Fehler. Ich hatte dann einen totalen Schock und habe dann sicher sieben Jahre nicht mehr an der Komposition gearbeitet.“

Foto: Archiv Slovo 21Rathgeb setzte die Arbeit erst fort, nachdem ihm 2006 der Direktor des Internationalen Gipsy-Festivals in den Niederlanden versprochen hatte, das Requiem in verschiedenen europäischen Städten aufzuführen. Bis zur endgültigen Fertigstellung dauerte es aber trotzdem noch drei weitere Jahre. Die Premiere des Requiems fand erst 2012 in Amsterdam statt.

Bereits der erste Teil des Requiems vermittelt dem Zuhörer ein Einblick in die verschiedensten Gefühle, die im Laufe des gesamten Stücks zur Sprache kommen: Trauer, Hoffnung, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Resignation.

Auschwitz (Foto: Archiv Post Bellum)Die Idee, ein Denkmal in Gebetsform zu schaffen, kam dem Komponisten in seinem Männergesangsverein in Maastricht. Dort wurden häufig kirchliche Werke gesungen. Da er etwas für alle in Auschwitz verstorbenen Menschen schaffen wollte, hat Rathgeb lange über die Sprache des Textes nachgedacht. Deutsch kam als Sprache der Täter nicht in Frage, Romanes wollte er aber auch nicht verwenden, da er keine Opfer ausschließen wollte. Nach dem Studium einiger Requien klassischer Komponisten erkannte er, dass die Texte meist lateinisch verfasst waren. Also schrieb er den Text in der alten Universalsprache Latein.

Rena Horvátová (Foto: Romea)Gesungen werden die Texte immer von Opernsängern aus dem jeweiligen Gastland. Für Tschechien konnten Solisten aus dem Prager Nationaltheater gewonnen werden: Martin Bárta, Martin Šrejma und Jana Wallingerová. Eine Rolle wurde von einer besonderen Sängerin übernommen, so Rena Horvátová, die Pressesprecherin von „Slovo 21“:

„Pavlína Matiová ist die erste Roma überhaupt, die auf der Bühne des Dvořák-Saals im Rudolfinum auftritt. Ich habe sie gefragt, was ihr der Auftritt bedeutet. Und sie sagte, dies sei ihr sehr wichtig, weil ein Teil ihrer Familie ebenfalls im Konzentrationslager umgekommen sei. Es ist also ein sehr wichtiges und emotionales Erlebnis für sie.“

Pavlína Matiová (Mitte). Foto: Jana Šustová)Die 24-jährige Matiová besucht das internationale Konservatorium in Prag. Dort hat sie klassischen Gesang studiert und schließt gerade ihr Studium ab. Im „Requiem für Auschwitz“ singt sie die Sopranstimme. Vor dem Konzert war sie allerdings noch sehr nervös:

„Ich habe nur drei Jahre am Konservatorium in Prag klassischen Gesang unter der Leitung von Professorin Eva Zikmundová gelernt. Auch weil ich ein solch umfangreiches Werk noch nie einstudiert habe, scheint es mir sehr schwer. Ich bereite mich nun schon fast ein Jahr darauf vor. Mit den Solisten des Nationaltheaters zusammen zu singen ist für einen 'Laien' sehr anspruchsvoll, aber es wird wohl klappen.“

Foto: Tschechisches FernsehenKomponist Rathgeb jedenfalls war von der Leistung der jungen Roma-Solistin beeindruckt und fügte hinzu:

„Ich habe sie ja jetzt auch zum ersten Mal gesehen. Sie ist noch jung, aber ich finde es sehr schön, dass sich so jemand für ein solches Werk interessiert und es singt. Vor allem weil sie Roma ist und ein solches Werk singt, das finde ich super.“

Aber nicht nur die Gesangseinzelleistungen waren ein Erfolg, die gesamte Aufführung des Requiem wurde vom Publikum begeistert aufgenommen.

Nach der Vorstellung in Prag setzt das Orchester seine Tour in Europa fort, die nächsten Stationen sind Ungarn und Polen.

 

Requiem for Auschwitz – fighting prejudice, with choir and violin

07-11-2012 16:14 | Rob Cameron

 
Prague’s Rudolfinum concert hall is one of Europe’s most prestigious classical music venues – it kicks off the Prague Spring International Music Festival each year, among other things. Certainly its hallowed halls aren’t open to just anyone. So an appearance at the weekend by an orchestra made up of Roma or gypsy musicians was a rare event.

The international Roma and Sinti Philharmonic Orchestra, going through one final rehearsal at the Rudolfinum’s showcase Dvořák Hall. Cellists from the Czech Republic sit next to harpists from Hungary – almost all of them members of the Roma minority, not playing the csárdás or the gypsy jazz of Django Reinhardt, but classical music...with a gypsy flair.

At a break in rehearsals I spoke to David Bubani, a violinist originally from Pristina in Kosovo. That evening he and the Roma and Sinti Orchestra were due to perform a piece called Requiem for Auschwitz.

“We are not only what’s called gypsy music, of the type many people know. We are also classical musicians. We can play Johann Sebastian Bach, or Mozart, or Debussy. And we can also play gypsy music of course. But here the purpose is telling the story that the Roma and Sinti and gypsy people also suffered during this war.”

Requiem for Auschwitz was written by the Swiss-born, Dutch-based Roma composer Roger Moreno, after his first visit to Auschwitz in 1998 left him emotionally drained and suffering from musical writer's block. The piece, he says, is dedicated to all the victims of Auschwitz; Jews, Roma, Poles, and everyone else who passed through its gates.

“All those people dying there were in the same boat, whether they were Jewish, or gypsy, non-Jews, non-gypsies. So what is the difference in fact? They all died in the same way. So let’s make a kind of monument for all people. Maybe this work can even bring us a little bit – a little bit –more peace in this world, more tolerance between religions and between nations.”

Since its première in Amsterdam earlier this year, Requiem for Auschwitz has been performed at Tilberg in the Netherlands, and now Prague and Budapest. More performances are planned for Frankfurt, Bucharest and Cracow. At each stop the Roma orchestra is paired with a local choir – a symbolic defiance of the invisible barriers that usually keep Roma and non-Roma apart.

The concert is also accompanied by a number of other events, in a project supported by the European Union and Germany’s “Remembrance, Responsibility and Future” Foundation. Jitka Jurková is from the Czech NGO Slovo 21 which handled the Prague side of things.

“We basically want also to show that the Roma are not how they’re shown in the media. Pretty often in the Czech Republic they’re shown as the poorest and most problematic group of inhabitants. We want to show them as also an elite and great and skilled people.”

The Czech classical musical scene is a somewhat conservative one; certainly appearances by Roma musicians at the Rudolfinum, the country’s most prestigious venue, are rare. Partly for that reason, says Jitka Jurková, all 1,200 tickets were free – organisers were concerned a concert by a ‘gypsy’ orchestra would fail to sell out. That’s a telling indication of the challenges facing those seeking to overcome deep-rooted prejudice against the Roma.

www.requiemforauschwitz.eu

 

Romští umělci uctili oběti holocaustu. V Rudolfinu zaznělo Requiem za Osvětim

Praha, 4.11.2012 23:51, (ROMEA)
Několikaminutový potlesk ve stoje. To byl závěr skladby Requiem za Osvětim, která zazněla v neděli 4. 11. 2012 v pražském Rudolfinu (FOTO: Zdeněk Ryšavý)
Několikaminutový potlesk ve stoje. To byl závěr skladby Requiem za Osvětim, která zazněla v neděli 4. 11. 2012 v pražském Rudolfinu (FOTO: Zdeněk Ryšavý)
 

Romské oběti holocaustu připomněla v neděli večer v pražském Rudolfinu česká premiéra skladby Rekviem za Osvětim od romského skladatele Rogera Morena Rathgeba. Zazněla v podání Romského a Sinti filharmonického orchestru z Frankfurtu nad Mohanem.

V rámci mezinárodního projektu byla tato skladba uvedena již v Amsterdamu a Tilburgu, po Praze ji vyslechnou i Maďaři a Poláci.

Orchestr řídil romský umělecký ředitel a dirigent Riccardo M. Sahiti. Vystupuje v něm 75 profesionálních romských umělců z Německa, Čech, Maďarska a Rumunska.

A protože v každé zemi vystupují domácí sbory a sólisté, dnes večer se v Rudolfinu představili operní pěvci Jana Wallingerová (sólistka - alt), Martin Šrejma (sólista – tenor) a Martin Bárta (sólista – baryton). První romskou sólistkou, která kdy vystoupila na pódiu Rudolfina se stala čtyřiadvacetiletá zpěvačka Pavlína Matiová (sólistka – soprán). Doplnil je i Kühnův smíšený sbor.

Zcela zaplněné Rudolfinum odměnilo umělce několikaminutovým potleskem ve stoje.

Nizozemský skladatel Rathgeb zkomponoval Rekviem po návštěvě koncentračního tábora v Osvětimi. Autentické texty pamětníků holocaustu zarecitovali Taťjana Medvecká a David Tišer.

Podle Jitky Jurkové z organizačního týmu Requiem za Osvětim je většinovou asociací se slovem holocaust (Židé říkají "šoa"), genocida Židů. Podstatně méně se podle ní vzpomíná na tvrdou nacistickou perzekuci Romů, označovanou dnes jako „zapomenutý holocaust“. Jedním z cílů projektu je proto zvýšit povědomí o tragédii Židů, Romů a dalších obětí druhé světové války, což je nezbytné pro boj se současnými protiromskými projevy.

„Zásadní je pro nás zasazení připomínky holocaustu do kontextu současné rasové nesnášenlivosti. Pochopení problémů minulosti je klíčem k vyrovnání se s přítomností a budoucností. I proto doprovází koncert v Rudolfinu celá řada akcí, které se zabývají dnešním rasismem a příbuznými tématy,“ vysvětluje Jurková.

 

 

Deutsch-Tschechischer Zukunftsfonds

Kultur

Requiem für Auschwitz

Das wichtigste Ziel des Projektes „Requiem für Auschwitz war, durch ein außerordentliches Konzert klassischer Musik, das für das breite Publikum bestimmt war, an die Holocaust-Opfer der Juden und der Roma zu erinnern und sie zu ehren.

Am 4. November 2012 fand im berühmten Konzertsaal des Prager Rudolfinums die Aufführung des Werkes „Requiem für Auschwitz“ statt. Die Aufführung dieser Komposition sollte den tschechischen Zuschauern zum einen das Werk des niederländischen Roma-Künstlers Roger Moreno Rathgeb vorstellen. Zum anderen sollte mit diesem Requiem und dessen Aufführung aller Opfer der nationalsozialistischen Gewalt gedacht werden.

Die Philharmonie aus Frankfurt am Main, die das Werk einstudiert hatte, bei dem auch 75 profesionelle Roma-Künstler aus Deutschland, Tschechien, Ungarn und Rumänien auftraten, hatte sich schon im Rahmen eines internationalen Projektes in Amsterdam und Tilburg vorgestellt. In Prag wurde das „Requiem für Auschwitz“ unter der Leitung von Riccardo M. Sahiti gemeinsam mit dem gemischten Kühn-Chor aufgeführt.

Für ein außerordentliches Musikerlebnis sorgten auch die vier Solisten – dies waren die drei bekannten Opernsänger Jana Wallingerová, Martin Šrejma und Martin Bárta sowie die junge talentierte Roma-Sängerin Pavlína Matiová. Das einzigartige Konzert ergänzten in den nachfolgenden Tagen die Ausstellung „Genozid der Roma Gesellschaft in der Zeit des zweiten Weltkrieges“, die Erstaufführung des Films „Es ist nur Wind“, eine Projektion von Dokumentarfilmen und die Konferenz „Roma-Vorbilder und Roma-Bilder in den Medien“. Nach der Aufführung des Requiems in Prag wird das Orchester auch in Budapest und in Polen auftreten. Initiator war das internationale Festival in Tilburg, das sich gemeinsam mit fünf internationalen Partnern (aus Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik, der Niederlande sowie aus Deutschland) entschloss, die Einstudierung des Werkes durch ein professionelles Orchester und einen Chor und die anschließende Aufführung in ausgewählten europäischen Ländern zu ermöglichen.

 
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